SHE – das ist Jeanette, Art Direktorin bei Wolkenkratzer. Ab sofort, in loser Folge und nach Lust und Laune wird Jeanette an dieser Stelle über die Musik schreiben, die ihr am Herzen liegt. PROG – aber nicht ausschließlich. Sie wird uns zu Konzerten und Festivals mitnehmen und immer wieder zeigen, was es heißt: BE PROG, my friend.
Ganz schön komplex
Die winterliche Durststrecke ist überstanden – die Festivalsaison ist eröffnet! Zumindest indoor und im kleinen Rahmen. Ich war unterwegs in Holland, um das Complexity Fest zu rocken. Serviert wurde den etwa tausend Zuschauern Metal aus der Nische „Technical“ oder „Progressive“. Dabei wurde das ganze Spektrum von aufsteigenden Newcomern bis zu alten Hasen des Genres abgedeckt und von einem echten isländischen Überflieger abgerundet.
You are the best community in the world. / Arnór Dan Arnarson, Agent Fresco
Früher hätte es mir Angst gemacht, auf eigene Faust allein auf ein Festival zu fahren – noch dazu im Ausland. Heute weiß ich: Ich treffe sowieso auf bekannte Gesichter und alte Freunde – oder lerne neue kennen. Die Community ist unfassbar großartig. Das wissen auch die Bands, und bringen es hier einmal mehr verbal zum Ausdruck.
Eröffnet wurde das eintägige Event, das im Patronaat in Haarlem bei Amsterdam stattfand, von den Holländern Transient State, auf der kleinsten der drei Bühnen. Sie lieferten uns einen soliden Start für die noch folgenden 21 weiteren Bands aus insgesamt 10 Ländern.
Mein erstes Highlight waren Extremities, für die das ebenfalls ein holländisches Heimspiel war. Die Mischung aus Djent und Wahnsinn (der Sänger lachte immer völlig überdreht) zog uns unmittelbar in ihren Bann und überzeugte uns mit harten Soundwällen, starker Stimme und facettenreichen Kompositionen. Gleich mal etwas zum Notieren, das muss zuhause nachgehört werden.
Mit weitaus größeren Erwartungen stürmte ich zur Eröffnung der Hauptbühne – wo die etablierte deutsche Band Disillusion das ablieferte, was ich schon tagelang vorher rauf und runter gehört hatte: feinsten, melodiösen, abwechslungsreichen und immer wieder auch harten Prog. Wir diskutierten danach darüber, dass der Soundmix zu Anfang nicht ganz ausgeglichen war, aber im Moment des Konzerts war ich zu begeistert, um mich daran zu stören. Mein Gang zum Merchstand war obligatorisch, führte aber surrealerweise dazu, dass mir der Gitarrist mal eben die Hoheit über diesen übergab, um Wechselgeld für die kaufbereite Kundschaft zu besorgen. Wir sind halt doch alle Freaks, da gibt es sozusagen eine implizierte Vertrauensbasis.
Uneven Structure hatte ich schon einmal live gesehen und war daher überrascht, wie anders ich sie abgespeichert hatte. So sanfte Töne, so gefühlvollen Gesang könnt ihr auch? Eine nette Überraschung dieser sechsköpfigen französischen Band. In den djentigen, lauteren Parts vermisste ich dagegen ein wenig die nötige Kraft.
Agent Fresco waren für nicht wenige Leute bereits die gefühlten Headliner. Es ist unfassbar, wie diese Band uns bei jedem Auftritt emotional berührt und mit unverwechselbarem Klang, ohrwurmgarantierenden Melodien, dezent eingesetzter Härte und purer Leidenschaft begeistert. Seit ihrem Behind-the-scenes-Video aus der schönen Serie „Ghosts of the road“ (zu finden auf Youtube) ist mir umso bewusster, dass es für diese Isländer jedes mal ein enormer Aufwand ist, überhaupt außerhalb ihres Landes zu touren – schließlich müssen jedesmal alle Beteiligten inklusive Equipment ausgeflogen werden. Umso mehr begeistert uns ihre Rückkehr hierher zu ihrem ersten Konzert des Jahres und wir lauschen den Vieren gebannt. So gebannt, dass ich völlig perplex und ehrlich überrascht bin, als der Sänger mitten im Song plötzlich vor mir steht, nachdem ich meine Augen wieder geöffnet hatte. Mal eben abklatschen und schon hüpft er wieder rauf und auf der Bühne auf und ab. Nach dem traurigen Song „Eyes of a cloud catcher“ über die Fürsorge seines im Sterben liegenden Vaters stehe ich einmal mehr tränenüberströmt und gleichzeitig glücklich inmitten bewegter Fans. Wäre das Festival hier zuende gewesen, hätte ich nichts vermisst.
Nach einer Pause zur Stärkung raffe ich mich auf, Exist Immortal aus London zu sehen, weil sie mich schon bei kurzem Reinhören direkt beeindruckt hatten. Wir werden nicht enttäuscht – trotz kleinster Bühne lohnt sich dieser Gig und bestätigt den Eindruck. Starke Stimme, starke Arrangements, viel Power. Gerne wieder.
Als offizieller Headliner hält Genregröße Ihsahn her. Während mancher Zuschauer wohl in Erinnerungen an seine Zeit in der norwegischen Black-Metal-Band Emperor schwelgt (die bis auf Live-Reunions hauptsächlich in den 90ern aktiv war), kenne ich ihn nur von seinen Solo-Alben. Ich weiß, dass hier ein Stück Metalgeschichte vor mir steht, dazu technische Perfektion auf bis zu achtsaitigen Gitarren, wohldurchdacht komponierte Stücke und ein eigenwilliges Setup ohne Bass, dafür mit Keyboard. Man merkt der Musik ihre Einflüsse an, ihre Schwere, ihre Komplexität. Auch wenn ich emotional nicht so eingenommen werde wie etwa von Agent Fresco, ist meine Wertschätzung enorm. Ihsahn sehen fühlt sich immer ein bisschen wie ein Privileg an, das gibt es nicht alle Tage. Umso überraschter war ich nachmittags, als er wie so viele andere Musiker einfach im Gang stand und mit diversen Fans plauschte.
Ich lasse den Tag mit einem Snack und einem Schnack mit ein paar holländischen Zuschauern beim Gig von Mutiny on the bounty ausklingen und fühle mich herzlich aufgenommen unter Gleichgesinnten. Auf Wiedersehen!
Jeanette Bohn
P.S.: Ich hoffe, dass Prog/Tech-Metal inklusive aller Ableger wie Mathcore, Experimental und co. immer Nische bleiben wird – persönlich und nah und nerdig. Damit unsere geschätzen Musiker dennoch überleben können, kaufen wir brav Tickets, Merch, Musik und unterstützen ihre Crowdfundings. Auch das ist Community.
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